Als englischer Landadel haben wir es in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht einfach. Zwar haben wir ein etwas in die Jahre gekommenes Anwesen und ein paar treue Bedienstete, aber Geld ist schlicht nicht vorhanden und unser Ruf könnte auch besser sein. Der Startpunkt unserer Spiel gewordenen Geschichte.
Neidisch blicken wir auf Alderley Hall, wo die Fairchilds in Ruhm und Reichtum residieren. Gerne wären wir so wie sie. So werben wir im Wettstreit um ihre Gunst, sofern wir mit Ausbauten unseres noch bescheidenen Landgutes ausreichend beeindrucken können. Sportliche Aktivitäten sind angesagt? Dann wäre es angebracht, unseren Bouleplatz zu bespielen und den geplanten Ausritt am Morgen von Herr und Dame in unserem eben fertig gestellten Reitstall zu beginnen. Im viktorianischen England haben wir es halt nicht leicht, um am Ende der Partie triumphieren zu können.
Das Thema hat mich ins Spiel gezogen und mitspielen lassen, obwohl ich Downton Abbey nie gesehen habe und auch sonst wenig mit der britischen Aristokratie anfangen kann. Freudig entspannt durch die Gärten lustwandeln ist aber nicht, denn Obsession ist im spielmechanischen Kern ein knallhartes Arbeiter-Einsatzspiel. Nur 15 Aktionen haben wir Zeit, um Gäste anzuwerben, Bedienstete anzustellen, unser Anwesen auszubauen und diese Ausbauten in Folge zu nutzen, um Geld, Ansehen und Siegpunkte zu sammeln.
Unsere Optionen sind vielfältig, nur nicht jeder eingeschlagene Weg führt zum Erfolg. Das habe ich in meiner Erstpartie eindrucksvoll kennengelernt. Anbauten brauchen Geld, um gebaut zu werden. Ansehen bekommen wir für gesellschaftlich angesehene Aktivitäten. Dazu braucht es Gäste, die allerdings erst einmal empfangen werden wollen. Teilweise sind noch zusätzliche Bedienstete notwendig, denn welcher Herr mag schon alleine seine Boule-Tasche tragen. Und auch nicht jeder darf einfach so ein Freundschaftsspiel auf dem neu und teuer gebauten Cricketfeld ausrichten. Dazu braucht es eine Menge Ansehen und fünf spielbereite Herren auf der Hand. Allzu schnell fehlte es an allem und das mühsam aufgebaute Ansehen schwand wieder dahin, weil ich mir Geld leihen musste.
Das Leben als Landadel hatte ich mir einfacher vorgestellt. Am Ende ist in unserer entspannten Dreierpartie nur der dritte Platz herausgesprungen. Spielerfahrung ist hier wortwörtlich Gold wert, denn wer es wie ich versäumt, zeitig in seinem Arbeitszimmer die anstehenden Stadtfeste zu planen, muss auf Geld und Ansehen verzichten. Blöd ebenso, wer wie ich genau in der Spielrunde passen und damit seine Kartenhand an Gästen wieder auffrischen muss, wenn durch den Feiertag alles Ansehen beim Ausspielen von Gästen und der Nutzung von Anbauten egal ist. Gutes und überlegtes Timing ist bei Obsession eine Menge wert und kann am Ende zwischen Spielsieg und letzten Platz entscheiden.
Werde ich mich nochmals in die englischen Grafschaft Derbyshire aufmachen? Eventuell, wobei ich dann genau weiß, wie selbst erlebt, dass Erstspieler schlicht chancenlos sind. Was 15 Aktionen wirklich bedeuten und wie fokussiert man agieren muss, um erfolgreich zu spielen, das ist schon eine ganz eigene Herausforderung für sich. Ebenso sollten Erstspieler eine gewisse Frusttoleranz mitbringen, denn nicht selten scheitern zu hoch fliegende Pläne an dem Mangel an Ressourcen – Geld, Gäste, Bedienstete und Ruhm. Wer hingegen erfahren gut spielt, der wird im Verlauf der Partie auch noch erfolgreicher werden. Aufholmechanismen kennt Obsession nicht und so war mir nach der Hälfte der Partie klar, dass ich meine schlecht abgestimmten Aktionen nicht wieder werde ausgleichen können.
Für mich persönlich ein gutes Spiel, das aber gerne interaktiver hätte sein können. Denn bei den Mitspielerzügen interessierte mich eigentlich nur, ob passende neue Ausbauten ins Spiel kommen und wie ich im direkten Vergleich zur kommenden Umwerbung in der Gunst der Fairchilds stehe oder das Rennen dort zeitig abschenke, um mich auf andere Spielaspekte zu konzentrieren. Zwar kann ich auch fremdes Personal abwerben oder Ruhm klauen, aber dazu muss ich erst einmal die benötigten Dienste erwerben, was nicht nur Geld kostet, sondern auch ein Tempoverlust bedeutet hätte. Andere Optionen klangen in meiner Partie lukrativer. Der eigentliche Ärgerfaktor lag deshalb eher bei den zufällig gezogenen Gästen – die können genau passen oder auch negative Siegpunkte einbringen, wenn man die nicht wieder umständlich zeitig loswird.
Mein Fazit: Wer sich an dem Thema erfreuen kann und mit den Mitspielern an Obsession wächst, wird seine Spielfreude erleben können. Ein herausforderndes Kennerspiel von Dan Hallagan, das es seit Oktober 2023 bei Strohmann Games auch komplett auf Deutsch gibt. Ich habe es in der Neuheitenflut erst 17 Monate später kennengelernt.